Ergebnisse des Forschungsgipfels 2021

Das Innovationssystem der nächsten Generation

Der Forschungsgipfel versammelt seit 2015 jährlich Entscheiderinnen und Entscheider, Expertinnen und Experten sowie Vordenkerinnen und Vordenker aus Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik, um gemeinsam Antworten auf gegenwärtige Fragen und Herausforderungen in der Forschungs- und Innovationspolitik zu finden. Er wird vom Stifterverband, der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) und der VolkswagenStiftung organisiert und fördert als interdisziplinäres Forum Dialog und Vernetzung.

Am 19. Mai fand der Forschungsgipfel 2021 statt. Dort wurde intensiv darüber diskutiert, wie das Innovationssystem der nächsten Generation aussehen sollte und welche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen dafür notwendig sind. Dieses Ergebnispapier fasst die wichtigsten Ergebnisse und Forderungen der Diskussion zusammen.

Die transformativen Kräfte, die gegenwärtig auf das deutsche Innovationssystem einwirken, führen zu gravierenden Veränderungen gerade in den Technologiefeldern, in denen in Deutschland Forschung und Entwicklung intensiv betrieben wird. Aktuell zeigt sich, dass der Rückstand Deutschlands bei Schlüsseltechnologien wie der Künstlichen Intelligenz, in Verbindung mit einem vergleichsweise geringen Digitalisierungsgrad, zu einem Entwicklungsrisiko wird. Das deutsche F&I-System droht die Fähigkeit zu verlieren, Schlüsseltechnologien mitzugestalten, und somit zunehmend abhängig von ausländischen Technologielieferanten zu werden. Da auch die europäischen Partner dieses Defizit nur partiell ausgleichen können, steht die technologische Souveränität Deutschlands und Europas auf dem Spiel. Der internationale Innovationswettlauf wird zunehmend von radikal neuen Technologien bestimmt. Das deutsche Innovationssystem mit seinen Stärken im Bereich der inkrementellen Innovationen erscheint zunehmend schlecht aufgestellt, um langfristigen Wandel und das Erreichen gesamtgesellschaftlicher Ziele sicherzustellen. In Konsequenz braucht es neue politische Steuerungsmöglichkeiten und Governance-Strukturen, mit denen die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft gemeinwohlorientiert gestaltet werden kann.

Die beiden Themen – technologische Souveränität und zeitgemäße politische Steuerung – müssen in der kommenden Legislaturperiode neu verhandelt werden. Der Forschungsgipfel 2021 hat in Vorbereitung darauf 17 Expertinnen und Experten versammelt, um Empfehlungen an Politik und Wirtschaft zu diskutieren. Was sie verband, war die Einsicht, dass ein Ruck durch das deutsche Innovationssystem gehen muss. Ihre zentrale Forderung lautet: Die Forschungs- und Innovationspolitik muss auf den in der Krise gewonnenen Erfahrungen agilen Handelns aufbauen und Risiko auch über die Grundlagenforschung hinaus als integralen Bestandteil ihrer Förderarchitektur zulassen.

Neue Organisationsformen und Institutionen können dazu beitragen, die Forschungs- und Innovationspolitik besser an gesellschaftlichen Bedarfen auszurichten und insgesamt agiler zu machen. Die Einrichtung neuer Institutionen entbindet den Staat aber nicht von der Pflicht, das F&I-System zu entschlacken. Bestehende strukturelle Hemmnisse für die Entstehung und Förderung risikoreicher F&I-Investitionen müssen dringend beseitigt werden.

Technologische Souveränität muss im europäischen Rahmen systematisch aufgebaut und geschützt werden. Auch in Krisenzeiten belastbare Kooperationsbeziehungen und der wirksame Schutz geistigen Eigentums sollten als zwei Grundpfeiler einer erfolgreichen Innovationspolitik unterstützt werden.
 

Die Forderungen im Einzelnen:
 

1. Neue Missionsorientierung in die Praxis tragen
Die Stärken des deutschen F&I-Systems liegen in der Komplementarität von Grundlagenforschung und angewandter Forschung. Sie kann durch eine neue, stärker an globalen gesellschaftlichen Herausforderungen und Nachhaltigkeitszielen ausgerichtete Missionsorientierung der Politik dazu beitragen, bislang vernachlässigte Technologien und Themen koordinierter in den Fokus zu nehmen. Doch entsprechende F&I-politische Konzepte sind bislang noch nicht ausreichend in der Praxis angekommen. Insgesamt braucht es in der F&I-Politik mehr Kompetenzen und Mut, eine grundlegende Weiterentwicklung des F&I-Systems voranzutreiben, die vor allem auch bestehende Strukturen
in Frage stellt.

2. Risikoreiche F&I-Investitionen stärken
Die Schnittstelle zwischen angewandter Forschung und Industrie funktioniert unzureichend. Defizite bestehen vor allem dort, wo es um risikoreiche F&I-Investitionen geht: Stichwort Start-ups. Hier werden sowohl der Staat wie auch private Financiers gebraucht, um diese Risiken bei Startups zu übernehmen oder abzufedern. Begleitend muss der Staat die steuerlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen für Risikokapitalgesellschaften, für Börsengänge und Fachkräftegewinnung weiter verbessern.

3. Chancen von Innovationsagenturen konsequent nutzen
International existieren unterschiedliche Vorbilder für Innovationsagenturen. Infolgedessen wurden auch in Deutschland zwei Agenturen gegründet, eine Agentur für den zivilen und eine für den militärischen Bereich. Beide Agenturen erfüllen jedoch nicht die in sie gesetzten Erwartungen, weil die operative Umsetzung nicht zielgenau und die den Agenturen zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten stark begrenzt sind. Innovationsagenturen benötigen größtmögliche Freiheitsgrade mit Blick auf Themensetzung und Ressourcensteuerung. Beschränkungen durch das Haushaltsrecht und die bestehenden Rechenschaftslogiken unter Beteiligung des Rechnungshofes stehen diesen Freiheiten bisher entgegen. Das zeigt sich zum Beispiel bei der Agentur für Sprunginnovationen (SprinD). Hier gilt es also, in viel stärkerem Maße auch experimentelle Ansätze und Handlungsweisen, gerade auch auf staatlicher Seite, zuzulassen. Für steuerfinanzierte Projekte sollten Regularien gelten, die für das Erreichen von langfristigen und umfassenden Wirksamkeitszielen auch risikoreiche Wege ermöglichen.

4. Strukturelle und regulatorische Hindernisse abbauen
Die vielen bestehenden Regulierungen führen in ihrer Summe zu massiven Reibungsverlusten im Rahmen von Innovationsprozessen oder -vorhaben. Beispiele sind die Umsatzsteuerpflicht für Kooperationsprojekte von Hochschulen und Forschungseinrichtungen und die strenge Auslegung des Datenschutzes. Hier sollte der Staat schnell und vergleichsweise einfach Abhilfe schaffen.

5. Zivilgesellschaft einbinden
Bislang ist die Zivilgesellschaft bei der Konzeption von Forschungs- und Innovationsprojekten kaum eingebunden, obwohl sie in vielen Bereichen über eine hohe angewandte Themenexpertise verfügt. Zudem bringt sie Innovationen hervor, die sich durch ihren nichtkommerziellen Charakter sowie ihre Gemeinwohlorientierung auszeichnen und sich dadurch von den Produkten klassischer Unternehmen unterscheiden. Eine Förderung dieser nichtkommerziellen Innovationen durch den Staat liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Die Zivilgesellschaft muss stärker als bisher als fester Bestandteil des F&I-Systems wahrgenommen und dementsprechend eingebunden werden.

6. Kompetenzen bei Schlüsseltechnologien erhalten
Bei technologischer Souveränität geht es vorrangig darum, die Generierung und Anwendung globaler und branchenübergreifender Schlüsseltechnologien aus eigener Kraft voranzutreiben. Dies umfasst ein ganzes Portfolio an Schlüsseltechnologien, von denen die Digitalisierung in all ihren Facetten, insbesondere in Richtung Künstliche Intelligenz, nur eine darstellt. Hier haben Staaten wie die USA und China aktuell Wettbewerbsvorsprünge, insbesondere in der Anwendung. Der Abbau von Wissens- und Qualifizierungsdefiziten und die stärkere Unterstützung bei der Planung und Implementierung von KI-Lösungen können diese Rückstände schmälern. Dazu zählen sowohl konkrete Programmierkenntnisse, aber auch umfassendere Data-Literacy-Kompetenzen.

7. Souveränität im europäischen Kontext verstehen
Für den Aufbau technologischer Souveränität werden klare Zuständigkeiten und Handlungsvollmachten einzelner Akteure für technologierelevante Fragestellungen gebraucht. Alleine ist Deutschland nicht ausreichend handlungsfähig, weswegen Europa als politisches Bezugssystem für die Erlangung technologischer Souveränität betrachtet werden. Hier liegen sowohl ausreichende wirtschaftliche Stärke wie auch funktionierende Wertschöpfungsketten und Kundenbeziehungen. Neben industriepolitischen Vorteilen des europäischen Kontexts bietet Europa auch die notwendige Forschungs- und Wissensinfrastruktur. Diese Netzwerke müssen aber strategisch weiterentwickelt und intensiviert werden.

8. Fundierten und breit eingebetteten Technologie-Foresight betreiben
Unabdingbar verknüpft mit der Förderung einzelner Technologien ist ein vorgelagerter Prozess, in dem eben diese Technologien identifiziert werden. Die bekannten Methoden und Prozesse des Technologie-Foresight und die Beteiligungsmöglichkeiten und -formate für diverse Stakeholder im Rahmen der Definition gesellschaftlicher Herausforderungen sind deutlich weiterzuentwickeln. Für eine zukunftsgerichtete Entwicklung ist etwa die Berücksichtigung von Diversität zentral – im Hinblick auf Fachdisziplinen, Branchen, gesellschaftliche Gruppen und Stakeholder.

9. Hochschulen zu Wegbereitern der technologischen Souveränität machen
Technologische Souveränität beinhaltet nicht nur den Aufbau von Infrastrukturen, sondern insbesondere auch die Entwicklung von Kompetenzen. Hierbei spielen Hochschulen eine zentrale Rolle. Sie müssen sich stärker als bisher als Wissensgeber und als Problemlöser für konkrete gesellschaftliche und ökonomische Herausforderungen verstehen – ohne die Freiheit von Forschung und Lehre einzuschränken. Dazu zählt auch die Rolle als Inkubator für Ausgründungen und für einen breiten gesellschaftlichen Aufklärungsauftrag, um Fachwissen zu erweitern, fundierte Diskurse zu ermöglichen und unbegründete Zweifel zu beseitigen.

10. Geistiges Eigentum als Innovationstreiber nutzen
Der wirksame Schutz geistigen Eigentums stellt einen Anreiz für Investitionen in risikoreiche Forschung und Innovation dar. Er ist damit eine Voraussetzung für den Aufbau technologischer Souveränität und den belastbaren Austausch von Wissen und Technologien zwischen Partnern. Zugleich bringt Patentschutz auch Markteintrittsbarrieren für neue Unternehmen mit sich und kann unter bestimmten Umständen sogar innovationshemmend wirken. Die Politik sollte sich daher auch im internationalen Dialog dafür einsetzen, dass das Vertrauen in den Schutz geistigen Eigentums nicht ausgehöhlt und gleichzeitig Patentschutz nicht missbräuchlich verwendet wird.