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Forschungs­gipfel Roundtable

17. November 2020

Thema: Jenseits von Konjunkturprogrammen – welche Weichenstellungen brauchen wir nach Corona für ein langfristig widerstandsfähiges und agiles Innovationssystem?

Die Corona-Pandemie lässt wie ein Brennglas die Stärken und Schwächen des deutschen Forschungs- und Innovationssystems deutlich hervortreten. Viele dieser Stärken und Schwächen waren schon vor der Pandemie bekannt. Ein Aspekt hingegen hat sich erst unter dem hohen Anpassungsdruck der Krise gezeigt: Trotz der starken Betroffenheit einzelner Branchen und damit in Verbindung stehender punktueller Reduzierungen von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, hat das deutsche Forschungs- und Innovationssystem insgesamt schnell und flexibel auf die akute Krise reagiert.

In einzelnen, von der Krise profitierenden Branchen wurden gar die vor der Krise geplanten Forschungs- und Entwicklungs- (FuE) Aufwendungen deutlich angehoben, so dass in der Bilanz des Jahres 2020 voraussichtlich nicht mit signifikant geringeren FuE-Aufwendungen zu rechnen sein dürfte. 

In den letzten Monaten wurde deutlich: Wissenschaft, Wirtschaft und Politik arbeiten eng zusammen, flexibilisieren zeitnah Prozesse auch dank digitaler Technologien und sind in der Lage, kurzfristig Innovationspotenziale zu heben, die – wie etwa Covid-19-Impfstoffe – der Welt zugutekommen. 

Wie können diese Erfahrungen genutzt werden, um Stärken des deutschen Forschungs- und Innovationssystems auszubauen, für kommende Herausforderungen und Krisen gerüstet zu sein und auch den Krisenverlierern neue Chancen zu eröffnen? Dazu haben 32 führende Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik auf dem Forschungsgipfel Roundtable am 17. November 2020 miteinander diskutiert.

 

Ergebnisse

1. Europa stärken, um einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden

Globale Lieferketten von Unternehmen werden in weltweiten Krisensituationen zur Achillesverse der Wirtschaft. Nationale Technologieführerschaft als Gegenentwurf solch diverser Innovations- und Liefernetzwerke birgt dagegen als Instrument internationaler Machtpolitik die Gefahr einseitiger und politisch wie wirtschaftlich nicht gewollter Abhängigkeiten. Gerade während der Pandemie hat sich die Kreativität gleichberechtigt kooperierender, internationaler Partner in Forschung, Zulieferung und Vertrieb als großer Gewinn für Resilienz und Agilität erwiesen. Um diese zu verbessern, steht Europa vor wichtigen Aufgaben:

  • Die Europäische Union – als wichtigster Garant von Multilateralität für Deutschland – hat in der Krise weder zu einer gestalterischen noch zu einer moderierenden Rolle gefunden. Um künftig ein gemeinsames Krisenmanagement zu ermöglichen, muss die koordinierende Rolle der Europäischen Union auf allen Politikfeldern gestärkt werden, die zur Krisenbewältigung beitragen.
  • Faire Zusammenarbeit und Resilienz brauchen weltweite Vielfalt, Dezentralisierung und Verflechtung anstatt einseitiger Abhängigkeit von einigen wenigen Akteuren. Darum müssen Deutschland und Europa einerseits ihre technologische Souveränität stärken und einen europäischen Weg zwischen den USA und Asien finden. Andererseits brauchen wir offene Grenzen, weltweite Arbeitsteilung und Kooperation sowie internationale Verständigung über Ziele gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Hierfür ist auch eine strategische Abstimmung von Forschungs- und Innovationsprogrammen zwischen Deutschland und der Europäischen Union nötig. Vordringlich ist dabei der Wandel des Innovationssystems in Richtung Nachhaltigkeit und Digitalisierung. 
  • Die innereuropäische Zusammenarbeit in der anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung für Schlüsseltechnologien muss beschleunigt und gestärkt werden. Nur so können Deutschland und Europa die Themenführerschaft bei ausgewählten Zukunftstechnologien behaupten.
  • Der Staat soll Anreize und Rahmenbedingungen verbessern, um eine intensivere Kooperation und einen lebendigeren Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu befördern. In dieser Hinsicht können wir nicht zuletzt von den USA lernen.

 

2. Die internationale Kooperation in der Wissenschaft als wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Krisenbewältigung stärken

Der rasche wissenschaftliche Erkenntnisgewinn zu Funktionsweise und Verbreitungswegen des Coronavirus und die schnelle Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen waren nur möglich, weil Forschergruppen aus zahlreichen Ländern zusammengearbeitet und Wissen frühzeitig geteilt und frei zugänglich gemacht haben. Solche Kooperationen benötigen Vertrauen, Offenheit und Weitblick. Daher gilt: 

  • Wir müssen auch weiterhin unsere Grenzen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die gemeinsam grundlegende Fragen der Wissenschaft beantworten wollen, offenhalten und Mobilität fördern.
  • Wir brauchen international geteilte Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsplattformen, um schnell und flexibel handeln zu können.
  • Wir dürfen die Menschen in Ländern mit schwächerer Wirtschaftskraft nicht von den Erfolgen dieser Gemeinschaftsleistungen ausschließen.

 

3. Der gesellschaftlichen Bedeutung herausragender Wissenschaft Rechnung tragen

Forschung und Innovation sind im Zuge der Corona-Krise wie selten zuvor in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Damit eröffnet sich die Chance, ein besseres Verständnis für das Zusammenspiel von Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung, Innovation und wissenschaftsbasierter Beratung gesellschaftlich zu verankern. Hierfür sollte das deutsche Forschungs- und Innovationssystem nach überstandener Krise gemeinwohlorientiert weiterentwickelt werden. Das erfordert seitens des Wissenschafts- und Innovationssystems:

  • Die Standards guter wissenschaftlicher Praxis sollten international verankert und überprüft werden, denn das Vertrauen der Menschen in die Ergebnisse der Forschung setzt Transparenz und höchste Qualitätsansprüche der Forscherinnen und Forscher an sich und ihre Arbeit voraus.
  • Freiheiten für die Neugier-getriebene Forschung müssen erhalten bleiben, denn nur so entsteht ein Wissensstock, der Grundlage für Innovationen sein kann. Ein so gewonnener vorauslaufender Wissensspeicher ist zudem die Ressource für die Lösung von dringenden Problemen und Zukunftsherausforderungen.
  • Wissenschaft und Wirtschaft müssen gerade bei der Einführung neuer Technologien oder Verfahren auf der Grundlage des besten verfügbaren Wissens und nachvollziehbaren Handelns noch stärkeres Vertrauen in ihre Verlässlichkeit als Partner bei der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen und Krisen aufbauen. Die Wissenschaft muss ihre Rolle als starke Kraft im Rahmen des transformativen Wandels Deutschlands in Richtung Nachhaltigkeit und Technologieführerschaft im Bereich zukünftiger Schlüsseltechnologien annehmen und ausfüllen. 
  • Wissenschaft sollte sich weiterhin mit aktuellen Ad-hoc-Stellungnahmen in der evidenzbasierten, interdisziplinären und unabhängigen Beratung von Politik und Öffentlichkeit einbringen.

 

4. Begeisterung schaffen: Die Visionen der jungen Generation und den Mut kreativ Denkender für Innovationen "made in Germany" und "made in Europe" gewinnen

Junge Unternehmensgründerinnen und -gründer in Deutschland streben nicht nur nach wirtschaftlichem Erfolg. Sie sind – wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch – getrieben von ihrer Neugier, von einer Vision und oftmals auch von dem Wunsch, Lösungsmöglichkeiten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bieten: von der Bewältigung des Klimawandels über die Sicherung unserer Energieversorgung bis zu neuen Formen politischer Beteiligung. Viele Lösungen zur Bewältigung der Krise stammen aus jungen Unternehmen und Initiativen – von We vs. Virus bis BioNTech –, sowohl im Bereich der Digitalisierung als auch in der medizinischen Forschung. Um dieses Potenzial langfristig für neue Ideen, Produkte und Dienstleistungen zu verwirklichen, sind diese Voraussetzungen zu schaffen:

  • Wir müssen den jungen Menschen in der Schule und insbesondere an den Hochschulen die Chance eröffnen, von der Idee zum Handeln zu kommen – durch Lernumgebungen, die von einer Vielfalt der Meinungen und Herkünfte geprägt sind; durch eine engere Verzahnung von Hochschulen und den vielen gut ausgebildeten und kreativen Menschen außerhalb der akademischen Welt; durch Freiräume zum Experimentieren.
  • Wir müssen den Transfer von Wissen und Technologien radikal vereinfachen, zum Beispiel bei Unternehmensbeteiligungen der öffentlichen Hand. Dazu gehören auch Änderungen im Gemeinnützigkeits- und Beihilferecht, die die besonderen Bedingungen von Start-ups und Ausgründungen aus öffentlichen Forschungseinrichtungen berücksichtigen. 
  • Wir müssen die Förderung von "Sprunginnovationen" weiter ausbauen – durch gezielte Vergabe von Fördergeldern für risikoreiche Forschungsvorhaben jenseits der klassischen Projektförderung und einen Ausbau der Förderfonds.
  • Wir brauchen eine neue Innovationskultur, die Mut zum Risiko honoriert und auf Fokussierung statt auf Breitenförderung setzt.

 

5. Die Chancen der Digitalisierung nutzen

Im Lichte der Covid-19-Pandemie zeigt sich einmal mehr der Wert von Daten für Forschung und Wertschöpfung. Doch zu oft noch können Daten für neue Erkenntnisse und neue Geschäftsmodelle nur von einigen wenigen großen außereuropäischen Technologieunternehmen ausgewertet werden. Eine Änderung dieser Situation ist unter folgenden Bedingungen möglich:

  • Wir brauchen einen möglichst umfassenden neuen gesellschaftlichen Konsens darüber, wie wir Forschungsdaten vertrauenswürdig und sicher (international) zugänglich machen, teilen und nutzen wollen und wie eine entsprechende Data-Governance-Architektur entwickelt werden kann.
  • Wir brauchen einen offeneren und schnelleren Zugang zu öffentlichen Daten, die in Echtzeit über wirtschaftliche und soziale Entwicklungen informieren.
  • Wir brauchen in Deutschland eine ebenso sichere wie leistungsstarke technische Infrastruktur für die digitale Grundversorgung und das für ihre Nutzung ausgebildete Personal. Hier sind Staat und Wirtschaft gefordert.
  • Wir brauchen neue Spielregeln für einen gemeinsamen nationalen und europäischen Datenraum. Hierfür muss die Europäische Union Standards setzen, die die gemeinwohlorientierte Nutzung von Daten zu Zwecken der Forschung, des Gesundheitsschutzes und der Krisenbewältigung besser ermöglichen als bisher.

 

Aufgrund der Corona-Pandemie musste der für Mai 2020 geplante große Forschungsgipfel leider abgesagt werden. Kurzfristig haben die Initiatoren des Forschungsgipfels ein neues, exklusives Format ins Leben gerufen und am 17. November 2020 den ersten Forschungsgipfel Roundtable veranstaltet. Rund 30 hochrangige Entscheider aus den Sektoren Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik haben dort gemeinsam über die Auswirkungen der Corona-Krise auf Forschung und Innovation und über die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen debattiert.

Der nächste reguläre Forschungsgipfel ist für den 19. Mai 2021 geplant.

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