Innovationspolitik nach der Zeitenwende
Bundeskanzler Scholz hat als Reaktion auf die aktuellen dramatischen geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen eine "Zeitenwende" angekündigt. Was bedeutet das für Wirtschaft, Wissenschaft und Politik? Auf der einen Seite verändern sich die Rahmenbedingungen und Spielregeln für Wirtschaft und Wissenschaft zurzeit massiv. Auf der anderen Seite verbleibt die – zunehmend dringliche – Notwendigkeit, Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltiger und klimaneutraler zu gestalten. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für eine zukunftsorientierte Forschungs- und Innovationspolitik in den kommenden Jahren?
Eine Beschleunigung der Transformation ist notwendig. Das verlangt ein noch engagierteres Transformations-Management – inklusive einer agilen Forschungs- und Innovationspolitik. Im Mittelpunkt stehen die Fragen: Wie lassen sich in Deutschland und Europa Nachhaltigkeit auf der einen Seite sowie Wettbewerbsfähigkeit und technologische Souveränität auf der anderen Seite realisieren? Und wie kann die Transformation hin zu einer nachhaltigen, klimaneutralen Gesellschaft ökonomisch erfolgreich, sozial ausgewogen und souverän umgesetzt werden? Die Bundesregierung möchte mit ihrer angekündigten Zukunftsstrategie Antworten auf diese Fragen geben. Damit die Transformation gelingt, muss diese Zukunftsstrategie die auf dem Forschungsgipfel 2022 formulierten zentralen Anforderungen für Forschung und Innovation erfüllen. Dazu gehören:
1. Innovationspolitik als Gesellschaftspolitik verstehen
Die langfristigen Nachhaltigkeitsziele, technologische Umbrüche und auch Verwerfungen aufgrund der aktuellen geopolitischen Krisen erfordern einen tiefgreifenden Strukturwandel in der Wirtschaft. Wir müssen daher im Denken und Handeln von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft Fesseln beherzt lösen und mit mehr Mut und Tatkraft als bisher die Chancen, die sich in einer solchen Umbruchsituation ergeben, nutzen. Um das Vertrauen in den Wandel zu stärken, brauchen wir eine moderne Innovationspolitik, die aber immer auch Angebote für die
Menschen macht. Es muss deutlich werden, dass Wohlstand und soziale Sicherheit in solchen Transformationsprozessen nur durch Innovation und neue Wertschöpfungsstrukturen gesichert werden können. Fragen der Innovation sind daher stets auch Fragen der Bildung und Qualifizierung. Und daher ist gute Innovationspolitik immer auch Gesellschaftspolitik.
2. Zukunftsstrategie ressortübergreifend formulieren und umsetzen
Eine zweite Lehre aus den vergangenen Jahren: Auf der Seite des Staates ist die zentrale Voraussetzung für den Erfolg einer Zukunftsstrategie, dass sie ressortübergreifend entwickelt
und ressortübergreifend umgesetzt wird. Forschung und Innovation sind Querschnittsthemen einer Bundesregierung. Sie dürfen jedoch nicht länger im Zuständigkeits-, Budget- und
Profilierungswettbewerb der einzelnen Fachministerien klein administriert werden. Vielmehr sind sie eine Gestaltungsaufgabe von strategisch übergeordneter Bedeutung und brauchen daher eine neue Kultur der Führung dieser Prozesse, die Verlässlichkeit im Verwaltungshandeln mit Zielorientierung, Agilität und Experimentierfreude verbindet.
3. Klare Innovationsziele und Missionen setzen, aber technologieoffen fördern
Eine Zukunftsstrategie muss klarer als bisher Prioritäten bei Forschungs- und Förderzielen benennen und den Weg beschreiben, wie diese Prioritäten bestimmt werden sollen. Wasserstoff
als Energieträger der Zukunft, datenbasierte und vernetzte Medizintechnik für ein leistungsfähiges Gesundheitssystem, Ernährungssicherung auf Basis nachhaltiger Düngemittel – der
Forschungsgipfel nennt Themen, die die Zusammenarbeit zahlreicher Akteure in Wissenschaft und Wirtschaft erfordern. Vor rund 60 Jahren hat die US-amerikanische Regierung die "Mission zum Mond" ausgerufen. Wir brauchen heute nicht eine, sondern zahlreiche Missionen, hinter denen sich alle Beteiligten versammeln und für die sie ihre Kräfte bündeln können. Die Ziele müssen ambitioniert und klar, die Wege jedoch offen sein: Der Staat kennt die Technologien der Zukunft nicht und er kann sie auch nicht vorschreiben. Sie ergeben sich aus dem Tun von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Forschungsprozess, nicht zuletzt in der Grundlagenforschung. Und die Anwendung in konkreten Produkten und Prozessen können an oft unerwarteten Orten realisiert werden.
4. Vorrangige Aufgabe: Wertschöpfungsketten unter Krisenbedingungen sichern
Die technologische Souveränität Deutschlands und Europas ist durch die dynamische Entwicklung der digitalen Technologien in anderen Teilen der Welt bereits teilweise verloren
gegangen. Zugleich führen uns die aktuellen internationalen Krisen und die zunehmende geopolitische Lagerbildung unsere Abhängigkeit von Ressourcen-Importen schmerzhaft vor
Augen. Die Welt droht geopolitisch, technologisch und wirtschaftlich in eine neue Zweiteilung zu zerfallen. Eine missionsorientierte Zukunftsstrategie muss deshalb zum einen dafür Sorge tragen, dass Risiken für Wertschöpfungsketten abgefedert werden können. Dazu gehören eine kluge Handelspolitik in Richtung strategischer Märkte und die Förderung entsprechender Forschungsfelder wie etwa die Substitutionsforschung. Zugleich fordert diese neue machtpolitische Blockbildung jedoch auch, dass wir den Blick für neue Kooperationspartner und -chancen in Teilen der Welt öffnen, die wir bisher vernachlässigt haben.
5. Skalierung von Innovationen denken und in Europa ermöglichen
Deutschlands Innovationssystem ist erfolgreich in der Förderung inkrementeller Innovationen und dem Erhalt etablierter Industrien. Wir haben aber einen bereits seit langem diagnostizierten Nachholbedarf bei der Skalierung erfolgsversprechender neuer Technologien und Geschäftsmodelle bzw. beim Aufbau junger Industrien. Während in den USA, aber auch in China, die Skalierung neuer Technologien und Geschäftsmodelle über die Marktgröße gelingt und in China staatliche Unterstützungen den Aufbau junger Industrien sichern, werden in Europa selbst die bestehenden Möglichkeiten des Binnenmarktes und der öffentlichen Beschaffung von innovativen Produkten nicht ausreichend genutzt. Eine Zukunftsstrategie muss deshalb stärker als bisher nicht nur die Erfindungen (Invention), sondern auch deren Marktdurchsetzung (Innovation und Diffusion) in den Blick nehmen. Skalierung und Wettbewerbsfähigkeit bedingen sich dabei gegenseitig. Statt Subventionen der Nachfrageseite, die in der Vergangenheit oft zum Abwandern der Produktion in andere Länder geführt hat (zum Beispiel Solartechnik und Elektromobilität), sind deshalb vor allem Maßnahmen erforderlich, um Europa als Leitanbieter für Innovationen, der auch im Preis- und Innovationswettbewerb bestehen kann, zu stärken. Der gesamte Innovationsprozess muss Grundlage koordinierten Handelns sein. Wir brauchen auf Bund- und Länderebene keine weiteren kleinen Förderprogramme. Nötig ist ein abgestimmtes System der Innovationsförderung, in dem etwa Start-Ups und akademische Ausgründungen schon bei der Entwicklung erster Geschäftsideen, über deren Umsetzung bis hin zu Skalierung und Wachstum in den Förderfokus genommen werden.
6. Den Staat als Freiheitsgaranten verstehen
Der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft wird über die heute erwirtschaftete Wertschöpfung finanziert. Damit dies weiterhin geschehen kann, brauchen Forschung und Innovation Freiräume und funktionierende Infrastrukturen als Basis unternehmerischen Handelns. Die Zukunftsstrategie muss daher betonen, dass sich der Staat in seiner Regulatorik auf die Festlegung klarer Ziele der Innovationspolitik beschränken und die Wege zu ihrer Umsetzung offenhalten, dafür aber Infrastrukturen und Bewegungsspielraum schaffen wird. Der rechtliche Rahmen für Innovation sollte Experimentierräume ermöglichen und kontinuierlich auf zu rigide Regelungen überprüft werden. In öffentlich-privaten Gemeinschaftsprojekten (PPPs) müssen dafür eigene Regeln etabliert werden, die nicht allein der Logik staatlichen Handelns folgen, sondern Agilität und Flexibilität ermöglichen. Der Ausbau einer modernen Infrastruktur gerade im Bereich Digitalisierung ist unverzichtbar für Forschung an der Grenze des aktuellen Wissens sowie die Skalierung und Marktentwicklung innovativer Technologien.
7. Normung und Standardisierung als strategisches Instrument weiterentwickeln
Einen wichtigen Beitrag zur Skalierung von Technologien leisten Normen und Standards. Sie erleichtern internationale Kooperation, schaffen Absatzmärkte und ermöglichen Effizienzgewinne. Länder wie China nutzen ihren Einfluss strategisch, um über weltweite Standardsetzung den Weg zur Marktdurchsetzung ihrer Produkte zu ebnen. Deutschland muss Normung und Standardisierung ebenso adressieren und nutzen, um mit innovativen Technologien einen Umbau der Weltwirtschaft hin zu ressourcenschonendem, klimaneutralen Handeln zu ermöglichen. Dazu müssen wir klar festlegen, in welchen Technologiefeldern und in welchen dazugehörigen Standardisierungs-Gremien eine stärkere Beteiligung notwendig ist.
8. Langfristorientierung der F&I-Politik sicherstellen
Die aktuelle Krise stellt eine große Herausforderung für das deutsche und europäische Forschungs- und Innovationssystem dar. Um das transformative Potenzial dieser Krise zu nutzen, ist es wichtig, Überreaktionen zu vermeiden und zugleich Pfadabhängigkeiten kritisch zu hinterfragen. Im Bereich von Forschung und Innovation sind von der Idee bis zur Marktreife lange Entwicklungszyklen typisch. Ein ständiger Wechsel von Forschungs- und Förderprioritäten ist deshalb kontraproduktiv und erschwert die Umsetzung langfristiger Förderziele und Missionen. Die Zukunftsstrategie muss deshalb so ausgestaltet sein, dass sie auch über Legislaturperioden und Krisen hinweg ein innovationsförderndes Maß an Planungssicherheit gewährt.
9. Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft an Zukunftsstrategie beteiligen
In der Wirtschaft und der Wissenschaft gibt es Expertise und Kompetenzen zur Gestaltung von Transformationsprozessen. Darüber hinaus stoßen insbesondere im lokalen Bereich gesellschaftliche Akteure Transformationsprozesse an und setzen sie beispielsweise in Pilotprojekten und Reallaboren um. Eine Zukunftsstrategie, die Innovationspolitik mit Gesellschaftspolitik verbindet, verlangt, dass neben Wirtschaft und Wissenschaft auch weitere gesellschaftliche Gruppen einbezogen werden. Diese aktive Einbindung ist Voraussetzung dafür, dass die Ziele der Strategie breite Akzeptanz finden und umgesetzt werden. Die Partner des Forschungsgipfels stehen mit ihrer Expertise und ihren Netzwerken bereit, um die Bundesregierung bei diesem Prozess zu unterstützen.